Wissenschaft entzieht sich ihrer Verantwortung

Gekürztes Interview mit Herrn Hempel: www.sozial.de auch zu finden

Frau Finkbeiner, Sie haben gemeinsam mit dem Inklusionsaktivisten Raul Krauthausen einen Text verfasst, in dem Sie sehr kritisch auf bestimmte Forschungspraktiken eingehen. Was genau stört Sie?

Es ist immer unangebracht, wenn Angehörige der Mehrheitskultur sich an den Erfahrungen einer Minderheitenkultur bedienen und darauf ihre (wissenschaftlichen) Karrieren aufbauen. Die Erfahrungen von (strukturellen) Minderheiten zu erfragen, ohne dass der Kontakt auf Augenhöhe stattfindet und etwas zurückgegeben wird, ist keine echte Teilhabe! Menschen mit Behinderungen sind keine (Forschungs-)Objekte, sondern sind aktive Subjekte, die etwas zur Forschung beitragen können. Und das wird zu Recht von vielen Personengruppen kritisiert, die beforscht werden, ohne selbst davon zu profitieren. Tokenismus ist weit verbreitet an Forschungseinrichtungen. Menschen mit Behinderungen werden eher als Betroffene wahrgenommen und weniger als Expert*innen.

Raul Krauthausens Artikel, in dem ich als Co-Autorin Erwähnung finde, geht auf die Mikroebene ein, also die Forschungspraktiken. Wir hatten das Bedürfnis aus unserer persönlichen Sicht aufzuzeigen, wie wissenschaftliches Arbeiten auf uns Menschen mit Behinderungen wirkt. Wissenschaft braucht uns und wir brauchen Wissenschaft, keine Frage. Mein Fachgebiet ist Deaf Studies interdisziplinären Forschungsgebiet mit Überschneidungen in Psychologie, Sprachwissenschaft, Soziologie, Geschichte, Politik, Pädagogik, Jura. Ich habe unterschiedliche Lehraufträge in der Vergangenheit an verschiedenen Universitäten gehabt. Mir und meine tauben Kolleg*innen und andere Aktivist*innen fällt auf: Ein Bedarf an Austausch und Ausarbeitung von ethischen Leitlinien ist uns Menschen mit Behinderungen ein Bedürfnis. Wer, wie und was wird hier zum Gegenstand der Wissenschaft gemacht und welche Ziele werden hier verfolgt? Auch wenn nach Vorgabe der Wissenschaft und Forschung hier professionell und korrekt methodisch vorgegangen wird, ist doch der Blickwinkel auf Wissenschaft von Menschen mit Behinderungen ein anderer. Dieser wird, wenn überhaupt, in Feigenblatt-Manier berücksichtigt. Ein Beispiel in der Gebärdensprachforschung ist die “SLLS Ethics Statement for Sign Language Research” und dessen inkonsequente Umsetzung in Forschung und Lehre. Beschäftigen wir uns wissenschaftlich mit dem Thema Inklusion, kommen wir nicht umhin, uns mit Wissenschaftsethik/wissenschaftlicher Integrität auseinanderzusetzen. Inklusion zu erforschen, ohne diese in der Forschungsarbeit selbst umzusetzen, ist aus zumindest ethischer Sicht fragwürdig. Dieses Missverhältnis musste ich am eigenen Leib erfahren. Ich habe mein Master-Studium “Barrierefreie Kommunikation” abgebrochen, da das Studium “Barrierefreie Kommunikation” nicht für mich barrierefrei gestaltet ist. 

Wissenschaft entzieht sich ihrer Verantwortung, hat aber keinerlei Bedenken Forschungsgelder zu beantragen, die oft leichter vergeben werden, wenn die UN-BRK an prominenter Stelle erwähnt wird.  Legen behinderte Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen hier mal den Finger in Wunde, dann schlagen uns Abwehrreaktionen aus dem wissenschaftlichen Bereich entgegen, da es ja um Karrieren geht und wissenschaftliches Ansehen geht, das im Wesentlichen auf der Anzahl von Publikationen beruht. Das möchten sich nichtbehinderte Wissenschaftler*innen ungern nehmen lassen. „Ableds Fragility“ nennt sich die Verletzlichkeit der nichtbehinderten Menschen. Eine Auseinandersetzung unter Einbezug von Menschen mit Behinderungen im universitären Bereich ist dringend erforderlich und wird auch offensichtlich gewünscht. 

Nach der Veröffentlichung unseres Beitrages hatten Raul Krauthausen und ich einige Feedbacks. Auffällig ist, dass alle Feedbackgeber*innen unseren Kritikpunkten zustimmen. Unzufriedenheit mit wissenschaftlicher Arbeit ist zu erkennen, nicht nur unter Menschen mit Behinderungen, sondern auch unter Studierenden, Lehrenden und Forschenden. Forschungspraktiken, die wir kritisieren, sind lediglich ein Symptom eines überarbeitungswürdigen Systems. 

Wir sollten allgemein die oberste Maxime “Hauptsache Forschung” in Frage stellen, gerade wenn es um das Thema Inklusion geht und auch Gebärdensprachforschung. Im Kern sehe ich vier große Baustellen: 1. Deutungshoheit über den Begriff Inklusion in Wissenschaft – wer entscheidet was Inklusion ist? 2. Inwieweit wird Ethik in den  Forschungsmethoden berücksichtigt? 3. Wie können gezielt Wissenschaftler*innen und Forschende mit Behinderung gefördert werden? 4. Was muss getan werden, um Menschen mit Behinderungen im Wissenschaftsbetrieb als festen Bestandteil einer Universität mit Diversitätsansatz anzusehen? 

Kritik an oberflächlichen ‚Fragebogen-Abschlussarbeiten‘ gibt es schon länger. Weshalb ist es aus Ihrer Sicht besonders bei Inklusionsthemen unangebracht?

Wir Menschen mit Behinderungen werden befragt, was natürlich notwendig ist, um die Faktenlage abzustecken. Nicht selten werden sehr intime Fragen gestellt. Es ist erschreckend, wie mit intimen und persönlichen Themen umgegangen wird. Es werden Forschungsfragen ins Internet, an Tauben-Vereine, Firmen, usw. nicht selten einfach wild gestreut, in der Hoffnung, dass irgendjemand sich ihrer erbarmt und sich die Mühe macht, ihre Fragen zum Thema Inklusion, Fragen aus Gender-Studien oder psychologische Forschungsfragen, zu beantworten. Ich brauche nicht zu betonen, dass diese Themen ein gewisses Maß an Respekt und Einfühlungsvermögen benötigen. Die Art und Weise, wie vorgegangen wird: Man packt die Bitte um Unterstützung für eine wissenschaftliche Arbeit in eine Mail oder einen Vlog , schickt sie aufs Geratewohl ins Netz und hofft auf zahlreiche Antworten, um seine ECT-Punkte zu erhalten. “Hallo mein Name ist XY, ich studiere BA/MA und schreibe eine Arbeit über das Thema ….. (Inklusion). Suche Interviewpartner*innen. Melde dich bei mir.” Das ist zwar wissenschaftlich zulässig, aber ethisch fragwürdig. Oft sind Studierende frustriert, weil sie kaum Interviewpartner*innen finden und die Resonanz, trotz großer Bemühungen eher bescheiden ausfällt. Den Studierenden kann hier kein Vorwurf gemacht werden. Sie müssen wissenschaftliche Vorgaben erfüllen und sind in den meisten Fällen unzureichend vorbereitet. Ein anderes Beispiel, das auch typisch ist, wie auch Raul Krauthausen in seinem Beitrag beschrieben hat ist, dass einzelne Menschen direkt angeschrieben werden, zu denen meist keine persönliche Beziehung besteht. Auch ich werde nicht selten von mir unbekannten Studierenden oder Forschenden angeschrieben, um Interviews oder Beiträge gebeten, ähnlich wie es auch Raul Krauthausen erlebt. Das, was wir beschreiben, ist nur die Spitze des Eisberges. Die Zahl der Befragten liegt viel höher. Da bereits viele Felder zum Thema Inklusion beackert wurden, stecken die Studierenden in einem Dilemma: Um die Vorgaben für eine BA/MA-Arbeit zu erfüllen, sind sie gezwungen, sich neue Felder zu erschließen. Vielen fällt dann aus Zeitgründen nur ein, die Betroffenen um Hilfestellung zu bitten, somit nehmen auch die Interviewanfragen bei Menschen mit Behinderungen inflationär zu. Noch nie war es so einfach, marginalisierte Gruppen bequem von zu Hause aus zu erreichen. Das Internet macht einen schnellen Kontakt möglich. Ich als ertaubte Gebärdensprachnutzer*in bin sehr dankbar, dass wir durch das Internet einen erheblichen Mehrwert an Kommunikationsmöglichkeiten gewonnen haben. Doch das Internet hat, wie wir alle wissen, auch Schattenseiten. Wir Menschen mit Behinderungen oder Eltern von Kindern mit Behinderungen erhalten eine Flut von Anfragen, ob sie für Forschungsarbeiten zur Verfügung stehen würden. Intime Fragen werden gestellt, an einem Ort, der keinen intimen Raum bietet: Das Internet. Was wir kritisch sehen: Die Fragesteller*innen sind zum größten Teil Menschen, die hauptsächlich (Ausnahmen bestätigen die Regel) nicht zur Peergruppe von Menschen mit Behinderung gehören. 

Ein persönliches Beispiel: Ich bin ertaubt und in der Gebärdensprach-Community und -kultur mittlerweile tief verwurzelt. Ich erhalte sehr oft Anfragen von Studierenden jeglicher Fachrichtung, die von der Deutschen Gebärdensprache “fasziniert” sind, vielleicht einen Grundkurs der Deutschen Gebärdensprache besucht haben, wenig bis kein Wissen über gesetzliche, soziologische, psychologische und kulturelle Themen der Gebärdensprach-Community verfügen. Nicht selten streben sie an, beruflich später “irgendwas” mit Gebärdensprache zu machen. Was fast alle Interviewer*innen dabei ausblenden: Die Gebärdensprach-Community wird fremdbestimmt vom Mainstream, der hören kann (Able-bodied privilege). Einem Hörenden wird von der tauben Community der Stempel “privilegiert” aufgedrückt wird, ob er oder sie mag oder nicht. Das ist ein Fakt, der eine große Rolle spielt und beeinflusst auch das Ergebnis einer wissenschaftlichen Erhebung und wird unterschätzt. 

Ist es nicht grundsätzlich positiv zu bewerten, dass sich immer mehr Studierende dem Thema widmen und es somit auch mehr in den öffentlichen Fokus rückt?

Das Thema Inklusion in den öffentlichen Fokus zu rücken, ist noch immer notwendig und somit zu befürworten. Obwohl wir Menschen mit Behinderungen langsam aber sicher müde werden, denn hier wird sehr viel mehr über das Thema diskutiert als Handlungsschritte erarbeitet. Grundsätzlich: Wer entscheidet was Inklusion ist? Der Blick der Wissenschaft auf Inklusion ist ein anderer als der Blickwinkel der Menschen mit Behinderungen, der Gesetzgeber definiert nochmal anders. Wer entscheidet? Es liegt ein sehr langer Weg vor uns, bis wir Inklusion nicht immer wieder auf die Bühne heben und dies „zum Thema machen“ müssen. Je nachdem wer, wie und mit welchem Ziel sich Inklusion als wissenschaftliches Thema ausgesucht hat, laufen wir sehr schnell Gefahr, dass Inklusion als Sonderfall wird. Inklusion ist ein Thema, womit sich alle Wissenschafts-Bereiche auseinander setzen sollten, so sieht es die UN-BRK vor. Stattdessen wird Inklusion in wissenschaftlichen Einrichtungen zum Thema gemacht, die sich ohnehin traditionell mit Menschen mit Behinderungen befasst. Universitäten werden somit dem Auftrag der UN-BRK nicht gerecht.

Oft liegt Unwissenheit oder unzureichende Vorbereitung hinter den Fragen der Forschenden, die wir Menschen mit Behinderungen deutlich zu spüren bekommen. Doch Wissen schützt auch nicht immer vor Grenzüberschreitungen. Gerade in den Dolmetsch-Studiengängen oder im Bereich der Gebärdensprachlinguistik besteht ein großes angeeignetes Wissen, wo Barrieren im Leben der Gebärdensprach-Community bestehen, denn zu fast jedem Studiengang gehört als Grundgerüst das Fach Deaf Studies, welches auch als eigenständiges Studienfach an der Humboldt-Universität angeboten wird.  Obwohl teilweise fundierte wissenschaftlichen Kenntnisse über soziale, kommunikativen und institutionellen Rahmenbedingungen des Lebens Gebärdensprachnutzer*innen erarbeitet werden, ist an den Fragestellungen und der Art und Weise, wie wissenschaftliche Fragen transportiert werden, deutlich zu erkennen, dass hier viel mehr nötig ist als reine hochkarätige Wissensvermittlung. Wir Menschen mit Behinderungen sehen die Notwendigkeit der Datenerhebung zum Thema Inklusion und auch Linguistik und wirken mit, auch wenn einige von uns dessen mittlerweile überaus müde werden. Was uns dabei antreibt: Wir haben Hoffnung, dass wir mit den erhobenen Daten unsere politischen Forderungen untermauern können. Gleichzeitig sind wir auch skeptisch, was unsere Mitarbeit betrifft: Befördern wir nicht mit der Teilnahme an Umfragen Studierende und Forschende in Positionen, die uns weiterhin fremd bestimmen und zwar mit unserer Hilfe? 

Sie kritisieren auch, dass Forscher*innen die Relevanz ihrer Forschung überschätzen. Dabei ist festzustellen, dass es nicht an Forschung zu Inklusion und sich als inklusiv verstehenden Projekten mangelt. Wo genau sehen Sie das Problem? 

Interviews ermöglichen, dass Bachelor/Master-Studierende oder Promovierende oder Professor*innen und alle weiteren, die Interviewfragen stellen, ihre Berührungsängste damit abbauen und dem Thema Behinderung und allem was damit zu tun hat zu etwas mehr Aufmerksamkeit verhelfen. Das sind dann einzelne Fälle, die gestreut werden,  aber keine gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen haben. Lehrer und Lehrerinnen an Schulen hilft man damit nicht weiter, auch nicht Eltern nicht-behinderter Kinder, die immer noch die Sorge haben, ihre Kinder „kommen zu kurz“, wenn Inklusion stattfindet. Inklusiv beschulte Kinder können sich immer noch nicht ihre Freunde selbst aussuchen, sie sind angewiesen auf diejenigen, die als Kind schon eine soziale Ader haben und sich „kümmern“. Wenn taube Kinder nur andere taube Kinder, die glücklicher Weise an derselben Schule unterrichtet werden oder aber die Dolmetscher*in zum Austausch haben, dann ist das keine Inklusion. Altersgerechter Austausch findet auch nicht statt, wenn die Klasse stolz „ein paar Gebärden“ lernt. Dazu gibt es Forschung, die aber entweder gar nicht die Akteure der Inklusion erreicht, oder aber die Inklusion durch eine rosarote Brille sieht. 

Auf einer Veranstaltung zum Thema Inklusion sagte ein Fussballtrainer, dessen Verein bei der Umsetzung von Inklusion wissenschaftlich begleitet wurde und der für die „tolle Inklusionsarbeit“ sehr gelobt wurde im Abschlussbericht ganz bescheiden: Ja, das weiß ich schon zu würdigen und ein wenig stolz bin ich ja schon. Aber jetzt kamen die nicht-behinderten Fußballer (Jugendliche) auf mich zu und meinten, sie würden auch gerne mal „richtig“ Fußball spielen und in die Jugendliga kommen. Das meinen sie nicht abwertend, die Inklusionsmannschaft versteht sich richtig gut. Aber was mache ich denn jetzt? Das ist jetzt leider keine Uni da, die mir das beantwortet“

Und genau da liegt das Dilemma. Die Untersuchung füllt Journale und bringt Ansehen für die Beteiligten, deren Studie sicherlich häufiger zitiert wird, als das Unbehagen des Fussballtrainers. Sie hat aber, praktisch gesehen, keinerlei Relevanz.

Mein Eindruck, es besteht unterschiedliche Definition von “Relevanz”. “Relevanz” aus Sicht der Forschenden geht sicherlich nicht konform mit der Definition und den Erwartungen von Menschen mit Behinderungen. Da ergeben sich Fragen: Für wen sind die Forschungen relevant? Werden Menschen mit Behinderung auf Augenhöhe einbezogen? Ist die Forschung auf echte Teilhabe ausgerichtet? Werden die Ergebnisse des Forschungsvorhabens mit den Menschen diskutiert (die sie mit produziert haben)? Werden daraus Erkenntnisse abgeleitet, „Erkenntnisse“ impliziert Handlungen, die getätigt werden müssen. Dient die Forschung nur der eigenen Karriere oder auch dazu, den Menschen zu einer Stimme zu verhelfen, die sonst nicht gehört werden? Spannend wären z.B. Forschungen zu den (ausgrenzenden) Bedingungen im Wissenschaftssystem und der Frage warum sich Barrieren so hartnäckig halten. Auch spannend wäre es, herauszufinden, inwieweit sie die Fragen behinderter Wissenschaftler anders wären. Was müsste man wirklich mal erforschen, aus Sicht von behinderten Menschen? 

Es reicht einfach nicht, wenn man eine studentische Hilfskraft mit Behinderung anstellt. Wissenschaftler*innen mit Behinderung sollten selbst verantwortlich mitwirken. Auch diese sind in den Zwängen wissenschaftlicher Arbeit (Publikationen in anerkannten Fachzeitschriften, finanzielle Gründe und Gründe der Reputation sind bei der Annahme von Projekten wichtig, usw.), es ist aber zu bemerken, dass diese Wissenschaftler*innen doch eher um Multipilkation ihrer Forschungsergebnisse in Behindertenverbänden und unter Betroffenen bemüht sind.

Und bei Projekten geht es weniger darum, ob sie sich als inklusiv verstehen, oder ob sie wirklich inklusiv ausgerichtet sind. So lange Projekte dazu dienen, Menschen mit Behinderungen dabei zu unterstützen, mit den Barrieren in der Gesellschaft klar zu kommen, hat sich nichts grundlegend geändert seit den Zeiten, als noch von „Integration“ die Rede war. Inklusive Projekte hinterfragen die Normalitätserwartungen, überlegen sich, wo die Strukturen zu (hausgemachten) Barrieren führen und wie diese abzubauen sind. Wie das Thema Inklusion angegangen wird, ist entscheidend. Viele Projekte zur Unterstützung sind wichtig, so lange die Strukturen noch Barrieren erzeugen – sie vermitteln aber auch das Bild, dass Menschen mit Behinderungen unterstützungsbedürftig sind und zementieren dadurch lang tradierte Vorstellungen. Wenn aber Menschen als handelnde Akteur*innen einbezogen werden, das heißt schon zu Beginn gefragt wird: Womit beschäftigen sich Menschen mit Behinderungen? Welche Fragen haben Menschen mit Behinderungen? Wie können wir diese Fragen wissenschaftlich erarbeiten und Ergebnisse zugänglich machen? Denn das passiert so gut wie gar nicht. Oft befriedigen Forschungsthemen ausschließlich den Forschungsdrang von Wissenschaftlern und gleitet ab in Themenbereiche, denen keinerlei praktischer Nutzen zu entnehmen ist. Einige Forschungsgebiete in der Gebärdensprachlinguistik machen sehr stark diesen Eindruck, um nur ein Beispiel zu nennen.  Wenn Forschungs-Projekte einen Beitrag dazu leisten, dass Strukturen verändert werden und Menschen ohne Behinderung lernen, wo sie selbst „Sand im Getriebe“ sind und sich verändern müssen, dann haben wir zumindest einen Aspekt von Inklusion in den Blick genommen. 

Sie schreiben, damit etwas verändert werden kann, müssten „in erster Linie Privilegierte an Universitäten“ Verantwortung übernehmen. Wie könnte dies konkret aussehen?

Ein adäquater Ansatz sollte in jedem Fall auch das übergeordnete System deutlich einschließen, in dem Forscher*innen, Lehrende und Studierende tätig sind. Eine komplexe Problematik benötigt eine komplexe Herangehensweise, das haben die letzten Jahre deutlich gezeigt.  Seit 2009, also seit über 10 Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft. Seitdem hat sich einiges getan, aber grundlegend hat sich so gut wie nichts verändert. Da ist sehr viel Spielraum nach oben gegeben, auch das Tempo und die Leidenschaft lassen zu wünschen übrig. Wenn ich mir den Wissenschaftsbetrieb anschaue, dann ist es nach wie vor so, dass kaum Professuren mit Bezug zu Behinderung/ Inklusion/ Barrierefreiheit ausgeschrieben werden. Wenn diejenigen, die die zukünftigen Arbeitnehmer*innen ausbilden, aber keine Kompetenzen in diesem Bereich nachweisen müssen, bleibt es dem Zufall überlassen, ob sie zum Thema Inklusion lehren – und wenn ja, mit welcher Qualität. 

Ein Beispiel: Werden Digitalisierungsprofessuren ausgeschrieben und wird dabei nicht zur Auflage gemacht, dass dabei digitale Barrierefreiheit berücksichtigt werden muss, dann wird das Thema auf Jahre hinaus wissenschaftlich möglicherweise nicht in Lehre und Forschung aufgegriffen. Das gleiche gilt für die Gelder, die sehr spontan zur Umstellung auf ein digitales Semester wegen Corona zur Verfügung gestellt wurden. Wenn hier nicht vorgeschrieben wird, dass dabei Konzepte zur Barrierefreiheit unter Einbezug von Expert*innen mit Behinderungen vorgelegt werden müssen, bleibt es auch hier dem Zufall überlassen, ob an der zukünftig immer bedeutender werdenden digitalen Lehre auch wirklich alle teilhaben können oder Ausschlüsse bestimmter Personengruppen zementiert werden. Dabei wäre es so einfach gewesen, das hinzubekommen. Man muss nur Menschen mit Behinderung fragen, auch wenn sie eventuell noch Studierende sind, oder in Verbänden tätig sind und keinen Professorentitel führen.

Rechtliche Vorgaben umzusetzen, Forschung zur Behebung von Barrieren zu ermöglichen, Inklusion als inhaltliche Kompetenz bei der Einstellung von Personal festzulegen, die Vergabe von Geldern an die Teilhabe aller zu knüpfen, etc. das sind alles Aspekte, die von Menschen mit Führungsverantwortung an Universitäten (Präsidium, Senat, Professor*innen) aber auch darüber hinaus (Wissenschaftsministerium, Förderwerke, DFG) beschlossen werden können. „Nicht die Ungleichheit ist das wirkliche Übel, sondern die Abhängigkeiten.” (Voltaire)

Sie gehen auf einen weiteren heiklen Punkt ein: Die Wissenschaft dürfe nicht allein darauf schauen, ob Forschung ihren eigenen Qualitätsstandards entspricht, sondern müsse sich verstärkt an ethischen Kriterien orientieren. Unterläuft das nicht auch die wissenschaftliche Integrität? 

Wissenschaftliche Integrität im umfassenden Sinn kann nicht vom verantwortungsvollen Umgang mit dem menschlichen Wissensdrang und der menschlichen Neugier losgelöst werden. Es ist üblich, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung durch die Ausschreibung von Drittmittelprojekten (und damit mit finanziell erheblichen Mitteln) inhaltlich gesteuert werden. Inklusion und Barrierefreiheit mit Forschungsmitteln (über eine wettbewerbsorientierte Ausschreibung) zu versehen, wäre damit kein Tabubruch. Dabei könnte und sollte dann z.B. zur Voraussetzung gemacht werden, dass Menschen mit Behinderungen aktiv in die Forschung einbezogen werden, darin Promotionsstellen an Menschen mit Behinderungen vergeben werden (selbstverständlich vorbehaltlich der fachlichen Eignung; s. https://promi.uni-koeln.de/?cookie-state-change=1597754086240). Dies passiert in allen Bereichen. Es ist unverständlich, warum Inklusion nach wie vor davon ausgenommen wird 

Wissenschaft braucht Diversity, Empowerment, Inklusion und keine Spaltung zwischen Wissenschaft auf der einen Seite und Menschen mit Behinderung auf der anderen Seite, ansonsten wird wissenschaftlich Forschung sinnfrei und bloßer Selbstzweck. Und auch das kann als nicht integer angesehen werden. Das gilt in besonderem Maße für die Wissenschaften, die auf Mitwirkung von Menschen außerhalb der Universität angewiesen sind (siehe Thema „Befragungen von Menschen mit Behinderung“). Wissenschaftliche Erkenntnisse den Menschen zuteil werden lassen sollte keine Belastung, sondern eine Selbstverständlichkeit sein. In angelsächsischen Ländern gibt es beispielsweise Preise für Wissenschaftler, die ihre Forschungsergebnisse verständlich (und sogar unterhaltsam!) an die Öffentlichkeit bringen. Das ist in Deutschland eher verpönt. 

Und wenn das zu Lasten bestimmter marginalisierter Gruppen geht, dann muss sich etwas ändern. 

Weitere Quellen: